Hochstapelei in der Gegenwartskultur

Hochstapelei in der Gegenwartskultur

Veranstalter
Onur Kemal Bazarkaya & Johanna Tönsing
PLZ
33098
Ort
Paderborn
Land
Deutschland
Findet statt
Digital
Vom - Bis
03.04.2024 -
Von
Onur Kemal Bazarkaya

Hochstapelei ist ein Thema, das die Kultur- und Sozialwissenschaften in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder beschäftigt hat. In unserem Sammelband „Hochstapelei in der Gegenwartskultur“ möchten wir literatur-, film-, fernseh- und medienwissenschaftliche Beiträge, aber auch soziologische, psychologische, juristische, politikwissenschaftliche, pseudologische, philosophische und didaktische Beiträge versammeln, die sich mit inner- und außerliterarischen Hochstapler:innen der Gegenwart beschäftigen.

Hochstapelei in der Gegenwartskultur

Hochstapelei ist ein Thema, das die Kultur- und Sozialwissenschaften in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder beschäftigt hat (Porombka 2001, Schwanebeck 2014, Klein 2017, Schmidt 2018, Veelen 2021). Wenn beispielsweise Anna Sorokina sich als die reiche Erbin Anna Delvey ausgibt, dann stellt sich nicht (nur) die Frage nach der Hochstapelei der Sorokina. Es stellt sich, verlässt man diese sehr enge und mitunter essentialisierende Perspektivnahme, darüber hinaus auch die Frage nach dem „echten“ und „wahren“ Reichtum. Es ließe sich so die Hochstapelei immer auch von einer anderen Seite in den Blick nehmen: Ist Anna Delvey eine Hochstaplerin, weil sie vorgibt, reich zu sein, oder liegt die Faszination an ihrer Person/Figur auch darin begründet, dass sie die Reichen New Yorks als die eigentlichen Hochstapler:innen entlarvt oder zumindest persifliert? Angesprochen wären damit auch die gegenwärtigen Aushandlungsprozesse zwischen dem, was als „wahrer Reichtum“ zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur gilt, und dem, was nicht in diese Kategorie fällt. Zu fragen wäre außerdem nach den Darstellungsmodi in Bezug auf die empirisch/historischen wie auch innerdiegetischen Figuren und ihrem jeweiligen Verhältnis zum gesellschaftlichen Kontext. Hochstapelei und ihre wie auch immer geartete (metaperspektivische) Betrachtung sollte also auch methodisch in unserem Sammelband „Hochstapelei in der Gegenwartskultur“ reflektiert werden, nicht ohne jedoch einen – je kulturell ausgehandelten – Anspruch auf Wahrheit völlig aufzugeben.

Für die nahezu ubiquitär auftretende Praxis des Hochstapelns in der Gegenwart, die in verschiedenen Disziplinen in Augenschein genommen werden, können mehrere Gründe angeführt werden. Beispielhaft seien hier einige genannt:

- Mit dem 1973 in Bretton Woods beschlossenen endgültigen Ende des Goldstandards geht eine „Destabilisierung von Referentialitätsansprüchen von Zeichen“ (Amann 2016, 127) einher, die nicht nur den Beginn des globalen Finanzkapitalismus einläutet, sondern sich auch auf außerökonomische Bereiche ausbreitet. Es ist diese Fiktionialisierung der Wertbestimmung, die sich auch auf Subjektivierungsprozesse insgesamt überträgt (Heimburger 2004; Tönsing 2021). (Literarische) Fiktion und Ökonomie gleichen sich an, Unternehmer:innen werden im Neoliberalismus zu Künstler:innen ihrer selbst (Pott 2004), ein Punkt, dessen gesamtgesellschaftlicher Einfluss auf den Individualismus und Fragen der Identitätsbildung von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

- Georg Franck spricht von einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (2004) und führt das gegenwärtige Handeln auf das „gesellschaftliche Leben auf der Bühne“ (13) zurück. Insbesondere ›Social Media‹, und die dadurch hervorgerufenen Anreize zur Förderung bildaffiner Kulturen, führt zu einer neuen Währung für das Wahrgenommen-Werden durch andere – wahr ist, was wirkt.

- Durch die Intensivierung des visuellen Anteils von Medien, die einen Selbstbezug ermöglichen, wird der Fokus des Selbstbezugs ein anderer und konzentriert sich zunehmend auf vordergründige körperliche Aspekte (Schneider 2000). Der Drang im Subjekt, schön sein zu müssen, wird dabei umso größer, je instabiler, je formbarer das digitale Profil – und damit der eigene Körper – sich gestaltet. Das Bombardement des Subjekts mit den idealisierten Profilen ist ein Beschleunigungsfaktor, der zu dem ständigen Drang, seinem eigenen Idealbild zu entsprechen, beiträgt.

- Wandel der Liebeskonzepte: Nach Eva Illouz (2004) sind die neuen Beziehungsstrukturen parallel zu ökonomischen Optimierungsprozessen eher auf den Möglichkeitsraum der Zukunft als auf einer gemeinsamen Vergangenheit und einem darauf basierenden Vertrauensverhältnis aufgebaut. Diese Entwicklung hat auch Folgen im Bereich der Täuschungsindustrie, wie der Erfolg von Heiratsschwindlern und Pick-Up Artists zeigt. Der Bereich des Liebesschwindels (auch in Datingplattformen) hat so nicht nur zugenommen, sondern das sogenannte „Romance Scamming“ bleibt im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland auch straffrei.

- Der pragmatische Wahrheitsbegriff nach John Dewey (1981) bildet, so könnte es als These in den Raum gestellt werden, einen fruchtbaren Nährboden für populistische Instrumentalsierungen von Wahrheit, insbesondere in den USA. Nicht zuletzt durch Donald Trump und sein Verweisen auf alternative facts könnte die Fokussierung auf die Wirkungskomponente zu einer Verwässerung des Wahrheitsanspruchs auch in Europa geführt haben: Wahr ist, was wirkt. Davon zeugt der Zuwachs (rechts)populistischer Parteien ebenso wie das Erstarken postfaschistischer Strukturen. In jedem Fall kommen subversive Machttechniken zur Anwendung, die im Hinblick auf Fakten manipulative „Verkehrungen ins Gegenteil“ (Sasse 2023) bewirken.

- Das erschöpfte Selbst (Alain Ehrenberg 2004) und das Gefühl, nur noch durch Täuschung in der Leistungsgesellschaft mithalten zu können.

In unserem Sammelband möchten wir literatur-, film-, fernseh- und medienwissenschaftliche Beiträge, aber auch soziologische, psychologische, juristische, politikwissenschaftliche, pseudologische, philosophische und didaktische Beiträge versammeln, die sich mit inner- und außerliterarischen Hochstapler:innen der Gegenwart beschäftigen.
Auf welche Weise kommen in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten einschlägige Themen zur Anschauung? Wie werden in Filmen, Serien und literarischen Texten Hochstapler:innen inszeniert? Welchen Bezug hat das Hochstapeln zu den Kategorien race, class, gender, ability und look? Werden etwa marginalisierte Hochstapler:innen anders bestraft als männliche? Ist die political correctness am Ende eine Möglichkeit für hochstapelnde Trittbrettfahrer:innen zu reüssieren? Wie wird das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion je ausgehandelt und dargestellt?
Solchen und ähnlichen Fragen wird in den Beiträgen des Sammelbandes aus jeweils unterschiedlichen Richtungen näher auf den Grund zu gehen sein.
Mögliche Themen wären:
- Hochstaplerinnen vs. Hochstapler in der Rechtssprechung
- Hochstapler:innen in Literatur/Film/Fernsehen
- Verhältnis zwischen realhistorischen Hochstapler:innen und ihrer Darstellung in Film/Fernsehen/Literatur/Dokumentation
- Komparatistische Beiträge zur Darstellung von Hochstapler:innen früher und heute
- Abgrenzung von Hochstapelei zu Scharlatanerie, Schwindel, Narzissmus etc.
- Psychologie/Pseudologie des Hochstapelns
- Hochstapelei in der Politik
- Fragen nach Essentialismus und Wahrheit
- Methodische Fragen
- Hochstapelei in der Tierwelt
- Hochstapelei im Alltag
- Hochstapelei und Internet
- Hochstapelei und Erschöpfung
- Hochstapelei und Schönheit
- Hochstapelei und Liebe
- Hochstapelei und Rechtssprechung

Es würde uns freuen, Sie für eine Mitarbeit an dem Sammelband zu gewinnen, der voraussichtlich 2025 erscheinen wird. Ihr Beitrag sollte in einem Umfang zwischen 20.000 bis 40.000 Zeichen liegen und spätestens bis zum 31. Dezember 2024 geschickt werden an: bazarkaya.onur@gmail.com und/oder johanna.toensing@uni-paderborn.de. Abstracts (300-500 Wörter) werden bis zum 31. Mai 2024 erbeten.

Kontakt

bazarkaya.onur@gmail.com
johanna.toensing@uni-paderborn.de

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